Subsidiarität – eine Idee mit Geschichte

Tine Stein arbeitet in ihrem Beitrag die geschichtlichen Hintergründe des Subsidiaritätsprinzips heraus, wie sie vor allem in der katholischen Soziallehre fassbar sind, und dokumentiert ihre wachsende Relevanz unter den Bedingungen von Globalisierung und Umbau des Sozialstaates. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zur Sozialpolitik.

Zu den prägenden theoretischen Inspirationen bei der Herausbildung des deutschen Sozialstaates gehört die katholische Soziallehre. Mit dem Prinzip der Subsidiarität greift sie auf ein traditionelles Thema der politischen Theorie zurück und entwickelt dies seit dem Ende des 19. Jahrhunderts allmählich zu einem zentralen sozialpolitischen Konzept. Tine Stein stellt die historischen Veränderungen des Subsidiaritätsbegriffs dar und verweist auf dessen bemerkenswerte Modernität im Zeitalter von Globalisierung und zunehmender weltweiter Verantwortung.

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» Der Artikel ist im Rahmen der Studie "Starke Familie - Solidarität, Subsidarität und kleine Lebenskreise"  der Robert Bosch Stiftung erschienen.

Mit dem Begriff der Subsidiarität wird ein Koordinationsverhältnis von politischer und gesellschaftlicher Ordnung ausgedrückt, bei dem der Vorrang der selbstverantwortlichen Lebensgestaltung des Individuums die Leitidee abgibt. Das Individuum muss allerdings auf die Unterstützung und Hilfestellung (»subsidium«) staatlicher Institutionen vertrauen können, wenn die eigenen Kräfte beziehungsweise die des gesellschaftlichen Nahbereichs nicht hinreichen. Besondere Prominenz hat der Begriff der Subsidiarität in der katholischen Soziallehre und in sozialpolitischen Auseinandersetzungen der frühen Bundesrepublik erfahren. Heute dient Subsidiarität im weiteren Sinne als ein Koordinationsbegriff zur komplementären Verhältnisbestimmung der Funktionen ganz unterschiedlicher Einheiten – sei dies territoriale Einheiten betreffend wie eine supranationale Organisation im Verhältnis zu ihren Mitgliedsstaaten oder sei dies die gesellschaftliche und die staatliche Sphäre betreffend. Im Kontext der Diskussion über das Potential der Zivilgesellschaft zur Lösung von sozialen Problemen angesichts eines überforderten Staates und auch überforderter internationaler staatlicher Kooperationen kommt dem Begriff heute wieder verstärkt Bedeutung zu.

Zunächst sollen hier zwei zentrale moderne Traditionen vorgestellt werden, in denen das Verhältnis von Individuum und gesellschaftlichen Gruppen einerseits und politisch-staatlicher Ordnung andererseits unterschiedlich beantwortet wird. Vor diesem politiktheoretischen Hintergrund werden sodann die zentralen Entwicklungslinien der Verwendung des Subsidiaritätsbegriffs in der christlichen Soziallehre in Erinnerung gerufen. Dabei ist insbesondere auf die sich wandelnden soziostrukturellen und politischen Rahmenbedingungen einzugehen. In diesem Zusammenhang können drei Phasen unterschieden werden. Hierbei soll auch gezeigt werden, dass von der grundsätzlichen Wertschätzung der gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Gruppen, die dem Individuum die freie Initiative und das freie Tätigwerden ermöglichen, eine Verbindung zur Wertschätzung der Zivilgesellschaft gezogen werden kann, der in neueren lehramtlichen Texten sogar ein Vorrang zugesprochen wird. In einem Ausblick soll schließlich ein Vorschlag unterbreitet werden, was das Subsidiaritätsprinzip unter den Bedingungen der Globalisierung bedeuten kann. Hinsichtlich einer solchen transnationalen, sogar weltgesellschaftlichen Solidarität sind beispielsweise die päpstlichen Rundschreiben der Nachkriegszeit ihrer Zeit voraus gewesen.

Staat und Gesellschaft in der politischen Theorie

Bei dem klassischen Subsidiaritätsbegriff geht es im Kern um das Verhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlichen Gruppen einerseits und politisch-staatlicher Ordnung andererseits. Dabei ist die Idee der Subsidiarität älter als der Begriff. Über deren rechtes Verhältnis zueinander wird ein Kardinalstreit in der politiktheoretischen Begründung des neuzeitlichen Staates geführt, ebenso darüber, welchen Instanzen eine Vorrangstellung zukommt. Hier steht die auf die Souveränität des Staates pochende Tradition eines Thomas Hobbes und eines Jean-Jacques Rousseau der liberalen Tradition eines John Locke gegenüber, n der die Eigenkräfte der Gesellschaft betont werden. Im Rahmen des vertragstheoretischen Paradigmas der neuzeitlichen Staatsbegründung gründet sich die staatliche Souveränität, also seine Handlungsmacht, af eine Autorisierung durch die am Vertrag beteiligten Bürger, die den Staat konstituieren und der für die Garantie der öffentlichen Sicherheit zuständig ist. Wie umfänglich die staatlichen Aufgaben sind, wie stark der Staat die gesellschaftliche Sphäre regelt und was er alles für die Gesellschaft zur Verfügung stellen soll, wird fortan ein dauernder Streitgegenstand sein. Dabei erkannte insbesondere Rousseau, dass der Staat nicht allein auf ein sicherheitstheoretisches Kalkül der Vertragsbeteiligten gegründet sein kann. Deswegen hat er als Republikaner für ein gemeinschaftliches Wertfundament plädiert, das freilich bei ihm ein staatlich oktroyiertes ist. Freie Assoziationen der Bürger, gar ein innerer Gewissensvorbehalt vor der staatlichen Zivilreligion, die wie einst im vorchristlichen Römischen Reich das Ferment des Zusammenhalts in der politischen Ordnung darstellt – das ist bei Rousseau und seinem allzuständigen Souverän, der keine Freiheitsrechte und keine eigenständige gesellschaftliche Sphäre respektiert, nicht vorgesehen.

Demgegenüber betonen liberale Denker die Autonomie der Gesellschaft, welche der Staat zu respektieren habe, der sich zudem auf die Gewährleistung von Rahmenbedingungen für den gesellschaftlichen Verkehr der Individuen zu beschränken, für allgemeine Sicherheit zu sorgen habe und nur in Ausnahmesituationen nachrangig, das heißt nur subsidiär in das Leben der Individuen und Familien eingreifen solle. Grundsätzlich ist in dieser liberalen Sichtweise die Sicherstellung und Gestaltung der eigenen Existenz dem Individuum überlassen. Was aber im klassischen Liberalismus zu wenig bedacht ist, ist der Umstand, dass die  Gesellschaft in ihrem Zusammenspiel der Einzelnen und Gruppen auch gewissermaßen auf ein wechselseitiges Wohlwollen der Beteiligten angewiesen ist, um einen sozialen Mehrwert zu produzieren, damit sich nicht im freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte nur das Recht des Stärkeren durchsetzt und sich Zustände sozialer Ausbeutung einstellen. Über diesen sozialen Mehrwert, der eine Gesellschaft in ihren Basis- Institutionen zusammenhält, hat Alexis de Tocqueville in seinen klassischen Betrachtungen über die Demokratie in Amerika berichtet. Tocqueville beschreibt mit Blick auf die amerikanische Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, wie die gesellschaftlichen Assoziationen und der christliche Geist in den lokalen Einheiten des Staates für einen sozialen Ausgleich und für Zusammenhalt sorgen.

Mit dem Aufkommen des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert zeigt sich dann allerdings, dass über die Rolle des Staates neu nachzudenken ist. Die ökonomischen Entwicklungen produzieren nicht nur eine neue Güterfülle, sondern auch sogenannte negative externe Effekte, die eine andere staatliche Regulierung und Leistung verlangen als jene, die ein bloßer Nachtwächterstaat bereithält. Das Nachdenken über ein geändertes Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und ihren jeweiligen Aufgaben unter der Leitidee der Subsidiarität ist vornehmlich ein Beitrag des deutschen Katholizismus.

Subsidiarität im Spiegel der katholischen Soziallehre

Das Subsidiaritätsprinzip ist wesentlich von der katholischen Soziallehre geprägt. Darunter sind sowohl die lehramtlichen Schriften, insbesondere die sogenannten Sozialenzykliken der Päpste, zu verstehen, als auch Schriften katholischer Denker (vgl. Uertz 2005). Das protestantische Denken und die protestantische Sozialethik haben sich nicht prägend mit dem Gedanken der Subsidiarität beschäftigt, weswegen hier eine Konzentration auf die katholischen Beiträge erfolgt. Es lassen sich drei Phasen unterscheiden.

1. Vom 19. Jahrhundert bis 1945: Subsidiarität als Antwort auf die neuen Aufgaben des Staates angesichts der sozialen Frage

(...)

2. Nach 1945: Erweiterung und Veränderungsdruck

(...)

3. Seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart: Neue Akzente unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI.

(...)

Zusammenfassend können folgende Punkte festgehalten werden, die das von der katholischen Soziallehre geprägte Subsidiaritätsprinzip charakterisieren:

  • Es gibt eine grundsätzliche Wertschätzung der gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Gruppen, denn diese ermöglichen dem Individuum die freie Initiative und das freie Tätigwerden. In neueren lehramtlichen Texten ist in diesem Zusammenhang auch von dem Vorrang der Zivilgesellschaft die Rede, in der die politische Gemeinschaft ihre Daseinsberechtigung finde (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006).
  • Es wird die Eigenverantwortung bei der Vorsorge für das eigene Leben und für die Familie betont.
  • Die staatliche Gemeinschaft wird als verantwortlich gesehen, subsidiär aktiv zu werden, und zwar:

    a) wenn sich Notsituationen ergeben,

    b) in den Aufgabenbereichen, die nur der Staat sinnvoll übernehmen kann, insbesondere bei den Infrastrukturmaßnahmen der Daseinsvorsorge,

    c) wenn das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte dazu führen würde, dass der Stärkere über den Schwächeren siegt, dann muss der Staat ausgleichend und auf das Gemeinwohl hin ausgerichtet eingreifen, wie überhaupt Gerechtigkeit ein Ziel des Staates ist, das freilich auch bei seiner Realisierung den christlichen Dienst am Nächsten nie überflüssig machen kann.

Das für die ältere katholische Kirche typische Leitbild einer ständisch geordneten Gesellschaft und die ebenso typische Ablehnung des gesellschaftlichen Pluralismus sind hier nicht mehr zu erkennen. Die katholische Soziallehre hat mit dem Ordnungsbegriff der Subsidiarität ein Konzept entwickelt, das auch in anderer Hinsicht sich als geeignet erweist, verschiedenen Sphären menschlicher Vergemeinschaftung in komplementärer Form unterschiedliche Aufgaben zuzuweisen (zu einem funktionalen Verständnis vergleiche Koslowski 1997). Dies soll hier abschließend mit Blick auf das Verhältnis zwischen der politischen Ordnung jenseits des Nationalstaates und der sich entwickelnden globalen Zivilgesellschaft verdeutlicht werden.

Ausblick: Subsidiarität als Aufgabenteilung in der globalisierten Welt



Für Subsidiarität als Leitbegriff der sozialpolitischen Diskussion ist kennzeichnend, dass in der sozialen Dimension das auf der je »unteren« Ebene geregelt werden soll, was dort sinnvoll geleistet werden kann, da diese Ebenen gewissermaßen näher am Menschen sind: Familie, Vereine und andere gesellschaftliche Assoziationen. Hinzuzunehmen zu der sozialen Gliederung ist die territoriale Dimension. Dies gilt explizit mit Blick auf das Mehrebenensystem der Europäischen Union. Danach bezeichnet das Subsidiaritätsprinzip in der EU den Vorrang der je leistungsstärkeren unteren politischen Einheit. Die EU soll in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann und insofern tätig werden, wie die Mitgliedstaaten und ihre jeweiligen Entscheidungsebenen allein ein Problem nicht zufriedenstellend lösen können. Es ist allerdings umstritten, ob das Subsidiaritätsprinzip diesen Zweck erfüllt (Zuleeg 2003; Mager 2003).

Noch komplexer wird es, wenn das Subsidiaritätsprinzip für die sich entwickelnde internationale politische Ordnung und die Weltgesellschaft als Koordinationsprinzip herangezogen wird. Würde als theoretisch zu denkender Fluchtpunkt dieser Entwicklung ein Weltstaat angenommen, bekäme das Subsidiaritätsprinzip eine eminent politische Bedeutung als Schutz der näher am Bürger stehenden politischen Einheit des Nationalstaates. Aber diese Entwicklung mit einem solchen Fluchtpunkt kann aufgrund der nicht hintergehbaren Bedeutung der Staatenwelt nicht sinnvoll angenommen werden. Vielmehr ist hier die Weltgesellschaft vor dem Hintergrund der bestehenden Institutionen der Staatenwelt von Interesse. Denn in der Weltgesellschaft bilden sich jenseits der wesentlich von Staaten bestimmten internationalen Organisationen und jenseits der bilateralen Staatenhilfe neue Formen transnationaler gesellschaftlicher Solidarität heraus. So hat sich beispielsweise die Mikrokreditidee transnationalisiert: Im Internet gibt es eine seriöse Plattform (»Kiva«), auf der die reichen Weltbürger den armen Weltbürgern grenzüberschreitend Kleinkredite zur Verfügung stellen können (Flannery 2007). Insbesondere hat sich die Philanthropie, wie sie sich in kapitalkräftigen Stiftungen niederschlägt, transnationalisiert. So hat die Bill & Melinda Gates Foundation 2007 drei Viertel ihrer Spenden außerhalb der USA ausgegeben und reicht mit dieser Summe von 1,5 Milliarden Dollar an den Entwicklungshilfeetat kleinerer Nationalstaaten heran. Nicht nur mit Geld wird geholfen: Es gibt auch eine Vielzahl von sogenannten Sozialunternehmern (»Social Entrepreneurs«), die ihre Zeit und ihre im Beruf und in der Ausbildung erworbenen Kompetenzen einsetzen, um für gesellschaftlichen Wandel in Staaten zu sorgen, in denen sie zwar nicht selbst Bürger sind, wozu sie sich aber doch moralisch verpflichtet fühlen. Diese wiewohl rudimentäre, aber doch vorhandene soziale Integration der Weltgesellschaft ist wesentlich von der normativen Idee der Unteilbarkeit der Menschenrechte initiiert (Stein 2008). Wie allerdings eine funktionstüchtige institutionell- politische Ebene der Staatenwelt aussieht, die subsidiär und fördernd eingreifen könnte, wenn die Initiativen und wechselseitigen horizontalen Hilfestellungen in der Weltgesellschaft nicht hinreichen, ist weiterhin unklar. Die Vereinten Nationen und die völkerrechtlichen Verträge jedenfalls scheinen keine hinreichende Form zu bieten.